Website des
Verfassungsschutzes Brandenburg:
16.09.2003
Anschlag auf
die Ausländerbehörde Frankfurt (Oder)
In der Nacht zum 16. September schlugen unbekannte Täter sämtliche
Fensterscheiben der Ausländerbehörde in Frankfurt (Oder) ein.
In die Räume warfen sie eine übelriechende Flüssigkeit,
auch füllten sie die Schlösser der Außentüren mit
Klebestoff. An den Giebel sprühten sie auf etwa 1,70 m mal 11 m die
Parole: "Deutschland deportiert wieder! Widerstand ist notwendig und machbar!"
Am Tatort hinterließen sie den Abdruck einer Verlautbarung,
die bereits vor zwei Jahren im Internet veröffentlicht worden war.
Das Ziel des Anschlags, die an der Häuserwand hinterlassene
Parole und nicht zuletzt die Auswahl des am Tatort hinterlassenen Schreibens
verraten eindeutige Bezüge der Täter zum linksextremistischen
Spektrum.
Gegen Abschiebung
und "Grenzregime"
Insbesondere der Text, der bereits im Februar 2001 auf der "World
Socialist Web Site" (siehe unten) publiziert worden war, verdeutlicht den
linksextremistischen Hintergrund der Tat.
Die Autorin dieses Artikels klagt die Ausländerbehörden
sowie den Bundesgrenzschutz und die Polizei an, menschenverachtend mit
Flüchtlingen und Ausländern umzugehen. Das so bezeichnete "Grenzregime"
des Bundesgrenzschutzes verhindere, dass Flüchtlinge überhaupt
erst nach Deutschland kämen. Aber auch die Praxis der Abschiebung
wird sehr kritisch beschrieben. Hierbei seien Betroffene wiederholt verletzt
worden oder gar zu Tode gekommen.
Angesichts dieser "Tatsachen" äußert die Verfasserin
Skepsis, ob der Kampf staatlicher Stellen gegen Rechtsextremismus ernst
gemeint sei. Denn sowohl Rechtsextremisten als auch staatliche Sicherheitsbehörden
gingen gegen Ausländer mit Gewalt vor. Die Autorin deutet damit an,
dass Staat und Rechtsextremisten unter einer Decke steckten.
Ein Argumentationsschema von Linksextremisten
Die Behauptung, dass die Ausländerpolitik der Bundesregierung
mit rechtsextremistischer Ausländerfeindlichkeit gleichzusetzen sei,
findet sich in vielen linksextremistischen Veröffentlichungen. Dabei
wird argumentiert, dass der Staat durch sein Handeln Rechtsextremisten
geradezu ermutige, gegen Ausländer und Flüchtlinge gewaltsam
aktiv zu werden. Der Staat zeige damit sein wahres - faschistisches - Gesicht.
Deshalb müssten Antifaschisten auch im Staat ihren Feind sehen.
Interessant ist an dem Fall von Frankfurt (Oder), dass die Täter
es nicht für notwendig hielten, ein eigenes Bekennerschreiben zu ihrer
Tat zu verfassen. Sie griffen einfach auf einen Text im Internet zurück,
um die "Logik" ihres Vorgehens zu verdeutlichen.
Vom Text zur Tat
Man wird der Autorin des Aufsatzes nicht nachsagen können, für
den Anschlag in Frankfurt (Oder) direkt verantwortlich zu sein. Strafrechtlich
ist ihr nichts vorzuwerfen, schließlich hat sie an keiner Stelle
zur Gewalt aufgerufen. Allerdings lässt sich festhalten, dass zur
Zeit die Flüchtlingspolitik eines der zentralen Themen von gewaltbereiten
Linksextremisten ist. Das zeigt sich an der beachtlichen Bindungskraft,
die im einschlägigen Milieu von antirassistischen Aktionen ausgeht.
Wie die Ereignisse rund um das Antirassistische Grenzcamp im August in
Köln beweisen, legitimieren Linksextremisten gerade auch mit dieser
Thematik Gewalt gegen Personen und Sachen.
Der in Frankfurt (Oder) am Tatort aufgefundene Artikel reiht sich
ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer
Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen
Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert.
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World Socialist Web Site (www.wsws.org)
24. Februar 2001
(www.wsws.org/de/2001/feb2001/ausl-f24.shtml)
Abschiebepolitik und Grenzregime
Die tödlichen Folgen deutscher
Flüchtlingspolitik
Von Lena Sokoll
Routinemäßig
verurteilt die Bundesregierung Gewalt gegen Ausländer, die von Neonazis
und Rassisten auf der Straße verübt wird, und fordert den weiteren
Ausbau des Polizeistaats und die Einschränkung demokratischer Rechte
unter dem Vorwand, den organisierten Neonazis Einhalt gebieten zu wollen.
Neben der Verantwortung für den grassierenden Rassismus, die Politiker
wie der deutsche Innenminister Otto Schily tragen, wenn er in Bezug auf
Flüchtlinge die "Grenzen der Belastbarkeit" beschwört, wird der
Aspekt der staatlichen Gewalt gegenüber Flüchtlingen und "unerwünschten"
Ausländern von der offiziellen Politik verschwiegen und bleibt auch
in den Medien weitgehend unbeachtet.
Die systematische Gewalt,
die von Seiten des deutschen Staates gegenüber Flüchtlingen ausgeht,
ist Teil der Abschottungspolitik der Europäischen Union und findet
ihren brutalsten Ausdruck an den Außengrenzen der Bundesrepublik,
vor allem der EU-Grenze nach Polen und Tschechien, und den Maßnahmen
vor und während Abschiebungen. Mit ihrer Abschiebe- und Abschottungspolitik
macht die offizielle Politik den Nazis vor, dass das Leben eines "unerwünschten"
Ausländers in Deutschland nichts wert ist. Nach einer von der Antirassistischen
Initiative Berlin (ARI) vorgelegten Dokumentation kamen in den vergangenen
sieben Jahren mindestens 239 Flüchtlinge durch staatliche Maßnahmen
ums Leben - deutlich mehr als durch rassistische Übergriffe.
Das Grenzregime
Auf der Basis des Schengener
Abkommens von 1991 haben die EU-Staaten ein System aufgebaut, dass die
Grenzen der Union für Flüchtlinge möglichst undurchlässig
machen soll. Vor mehr als sieben Jahren setzte die alte Bundesregierung
die "Drittstaatenregelung" durch, wonach jeder Flüchtling an der Grenze
zurückgewiesen werden kann, wenn er auf seiner Flucht nach Deutschland
einen sogenannten "sicheren Drittstaat" passiert hat. Die östlichen
Anrainerstaaten der EU übernehmen als "sichere Drittstaaten" die Rolle
eines Cordon sanitaire für die EU, wodurch jede Einreise eines Flüchtlings
auf dem Landweg ihn zu einem "illegalen" Flüchtling macht. Wo früher
der Eiserne Vorhang, im Westen Symbol der Unterdrückung, Menschen
die Reisefreiheit nahm, patrouilliert heute der Bundesgrenzschutz (BGS)
und verhindert, ausgestattet mit modernster Technik und Hundestaffeln,
die Einreise von Flüchtlingen in die Bundesrepublik.
Ein Beitrag des politischen
Fernsehmagazins Monitor unter dem Titel "Bundesgrenzschutz: Jagdszenen
an der deutsch-polnischen Grenze" warf kürzlich ein Schlaglicht auf
die schlimmen Verletzungen, die Flüchtlinge davontragen, wenn sie
von den auf Menschen gedrillten Diensthunden des BGS gestellt werden, und
die demütigende Behandlung, die sie von Seiten der BGS-Beamten selbst
erfahren müssen. Allein zwischen 1997 und 1999 wurden nach offiziellen
Angaben der Bundesregierung an der Grenze 43 Menschen Opfer einer "Bissverletzung
durch Diensthunde".
Direktes Ergebnis des
Grenzregimes ist der Tod von Flüchtlingen, die mangels einer legalen
Einreisemöglichkeit den Weg durch die Grenzflüsse Oder und Neiße
wählen. Nach Angaben der ARI-Dokumentation, die sich auf Pressemitteilungen
und Angaben des BGS stützt, starben zwischen 1993 und 2000 mindestens
119 Menschen auf dem Weg in die Bundesrepublik, davon 89 an den deutschen
Ostgrenzen. Die meisten von ihnen sind ertrunken, andere Todesursachen
waren Unterkühlung, Herzversagen und Verkehrsunfälle, die sich
auf der Flucht vor Polizeibeamten ereigneten. Die wirkliche Anzahl der
Ertrunkenen liegt vermutlich weitaus höher, da nur die Toten gezählt
worden sind, die am deutschen Ufer angespült wurden. Zudem berichtete
die tageszeitung, dass es gängige Praxis der Grenzgemeinden sei, die
ans Ufer getriebenen Toten wieder in den Fluss zurückzustoßen,
um die Kosten für die Beerdigung und eine eventuelle Rückführung
der Leiche nicht bezahlen zu müssen.
Abschiebungen und Abschiebehaft
Gelingt es Flüchtlingen
trotz der Abschottungsmaßnahmen in die Bundesrepublik einzureisen
und hier Asyl zu beantragen, endet ihr Aufenthalt in Deutschland jedoch
nicht selten mit der Inhaftierung in Abschiebegefängnissen und einer
letztendlichen Abschiebung außer Landes. Wer zu der großen
Mehrheit der Flüchtlinge gehört, deren Antrag auf Asyl abgelehnt
wird und die auch keine Duldung erhalten, wird zur "freiwilligen" Ausreise
aufgefordert - und oftmals in Abschiebehaft genommen, wenn die Behörden
glauben, dass die Gefahr eines Untertauchens besteht.
Bei der Abschiebehaft
handelt es sich um eine reine Verwaltungshaft, denn diese Personen haben
keinerlei Straftat begannen - nichtsdestotrotz unterscheiden sich die Haftbedingungen
nicht von denen krimineller Gefängnisinsassen. Es gibt für Menschen
in Abschiebehaft nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, mit der
Außenwelt in Kontakt zu treten, Besuch zu empfangen und so auch ihre
Rechte wahrzunehmen. Zumeist teilen sich mehrere Häftlinge eine kleine
Zelle (3 Personen auf 12 qm) und können diese nur für eine Stunde
am Tag zum Hofgang verlassen. Abschiebehaft wird in der Regel für
drei Monate verhängt, kann aber verlängert werden. Manche Menschen
befinden sich bis zu 18 Monate in Abschiebehaft.
Angesichts ihrer drohenden
Abschiebung begingen allein in den letzten sieben Jahren 92 Menschen Selbstmord
oder starben bei dem Versuch, der Abschiebung zu entgehen. Nach Angaben
der ARI haben sich im gleichen Zeitraum mindestens 310 Flüchtlinge
aus Verzweiflung oder Panik oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung
selbst verletzt oder versucht, sich das Leben zu nehmen, und zum Teil schwer
verletzt überlebt. Von diesen befanden sich 214 Personen in Abschiebehaft.
Zum Selbstmordversuch einer Angolanerin im November 1999 äußerte
der Leiter der Chemnitzer Ausländerbehörde Konrad Hiersemann,
dass Selbstmordversuche insbesondere bei Asylbewerbern aus afrikanischen
Staaten nicht außergewöhnlich seien; bei jeder zweiten Abschiebung
sei man damit konfrontiert.
Um die Abschiebung durchführen
zu können und den Widerstand der Flüchtlinge gegen die Abschiebung
zu brechen, werden Flüchtlinge oft von Beamten des BGS schwer misshandelt,
gefesselt und geknebelt oder gegen ihren Willen mit Medikamenten ruhig
gestellt. Diese skandalöse Praxis gelangt zumeist dann in die Presse,
wenn ein Flüchtling durch die Zwangsmaßnahmen des BGS bei der
Abschiebung stirbt, wie beispielsweise im Fall des 30-jährigen Aamir
Ageeb, der bei seiner Abschiebung 1999 erstickte, nachdem BGS-Beamte ihn
gefesselt, ihm einen Motorradhelm aufgesetzt und seinen Kopf zwischen seine
Knie gedrückt hatten.
Häufig verweigern
Piloten die Mitnahme, wenn sich Flüchtlinge heftig zur Wehr setzen
oder aufgrund von Verletzungen nicht transportfähig sind. Ein Flugkapitän
der Lufthansa berichtete im Hessischen Rundfunk über eine Abschiebung:
"Vor der hinteren Treppe lag ein Nigerianer in Rückenlage, die Hände
auf dem Rücken gefesselt, die Augen weit aufgerissen, die Hose durch
das Handgemenge tief heruntergeschoben. Ein BGS-Beamter mit einem Knie
auf der Brust des Nigerianers war damit beschäftigt, den hilflosen
Mann mit einem Klebeband einzuwickeln. Die Nasenlöcher des Mannes
waren gerade noch frei - zum Luftschnaufen. Blut am Klebeband. Auch die
Beine wurden mit Klebeband umwickelt, Oberschenkel, die Füße
und nochmals von oben nach unten, wie eine Rolle Teppichboden für
den Transport fertiggemacht ..."
Im Zeitraum von 1993
bis 1999 starben fünf Flüchtlinge während der Abschiebung,
mindestens 159 Menschen wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen
während der Abschiebung verletzt.
Was die Abgeschobenen
in ihren Herkunftsländern erwartet, bleibt weitgehend unbekannt, am
wenigsten interessieren sich die deutschen Behörden für das Schicksal
der Opfer ihrer restriktiven Asylpolitik und Abschiebepraxis. Soweit dokumentiert,
kamen mindestens 13 Menschen nach ihrer Abschiebung in das Herkunftsland
zu Tode, 276 Flüchtlinge wurden im Herkunftsland von Polizei oder
Militär misshandelt und gefoltert. Mindestens 46 Menschen verschwanden
nach der Abschiebung spurlos.
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World Socialist Web Site, Alle Rechte vorbehalten!
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Brandenburger Verfassungsschutz
verleumdet
World Socialist Web Site
Stellungnahme der Redaktion
der WSWS
18. Oktober 2003
Der Verfassungsschutz
Brandenburg hat auf seiner Online-Seite einen Artikel veröffentlicht,
der der World Socialist Web Site (WSWS) die Förderung von Gewaltbereitschaft
vorwirft und sie in das Umfeld des gewalttätigen "linksextremistischen
Spektrums" rückt. Die Redaktion der WSWS weist diese verleumderische
Unterstellung in aller Schärfe zurück und behält sich rechtlich
Schritte vor, um den Verfassungsschutz zur Rücknahme des Berichts
und zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung zu zwingen.
Es handelt sich bei dem
Bericht des Verfassungsschutzes um eine bösartige Verleumdung einer
Publikation, die sozialistische und demokratische Ziele verfolgt, und um
einen Angriff auf die Meinungsfreiheit durch eine Behörde, die vorgeblich
dem Schutz der Verfassung verpflichtet ist.
Der Verfassungsschutz
begründet seine Unterstellungen damit, dass nach einem Anschlag auf
die Ausländerbehörde von Frankfurt (Oder) der Abdruck eines Artikels
gefunden wurde, der zweieinhalb Jahre zuvor auf der WSWS erschienen war.
Unbekannte Täter hatten in der Nacht zum 16. September die Fenster
der Behörde eingeschlagen, eine übelriechende Flüssigkeit
in die Räume geworfen, die Schlösser der Außentüren
mit Klebestoff gefüllt und Parolen auf den Giebel gesprüht.
Obwohl dem WSWS-Artikel,
der sich kritisch mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung auseinandersetzt,
"strafrechtlich nichts vorzuwerfen" ist, wie der Verfassungsschutz selbst
feststellt, wertet er ihn als Beweis für "den linksextremistischen
Hintergrund der Tat". Er behauptet, der Artikel reihe "sich ein in eine
Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft
fördern oder direkt hervorrufen", und schließt mit den Worten:
"Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert."
Dazu ist folgendes festzustellen:
1. Die World Socialist
Web Site ist keine "linksextreme" sondern eine sozialistische Publikation.
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale und
seiner deutschen Sektion, der Partei für Soziale Gleichheit (PSG),
tritt sie für eine sozialistische Orientierung und die Verteidigung
demokratischer und sozialer Rechte ein. Die PSG hat wiederholt an Wahlen
teilgenommen und ist vom Bundeswahlleiter als Partei anerkannt. Sie lehnt
die Methoden individueller Gewaltanwendung aus grundsätzlichen Erwägungen
ab.
2. Der am Tatort vorgefundene
Artikel, der am 24. Februar 2001 unter der Überschrift "Abschiebepolitik
und Grenzregime, die tödlichen Folgen deutscher Flüchtlingspolitik"
auf der WSWS veröffentlicht wurde, kritisiert die staatliche Ausländerpolitik.
Er ist sowohl in seiner Darstellung der Tatsachen wie in seiner Wertung
korrekt. Er prangert die empörenden Zustände an den deutschen
und europäischen Grenzen an und nennt konkrete Zahlen über die
Zahl der Opfer. Er stützt sich dabei auf nachprüfbare und allgemein
zugängliche Quellen, unter anderem das ARD-Magazin Monitor, die Antirassistischen
Intiative Berlin (ARI) sowie die tageszeitung. Der Artikel geißelt
die Doppelzüngigkeit der Bundesregierung, die "Gewalt gegen Ausländer,
die von Neonazis und Rassisten auf der Straße verübt wird",
routinemäßig anprangert, während sie "mit ihrer Abschiebe-
und Abschottungspolitik... den Nazis vormacht, dass das Leben eines ‚unerwünschten'
Ausländers in Deutschland nichts wert ist".
3. Der Vorwurf des Brandenburger
Verfassungsschutzes, die Veröffentlichung eines derartigen Artikels
fördere Gewaltbereitschaft oder rufe diese direkt hervor, hat weitgehende
Implikationen. Er rückt jede Kritik an der offiziellen Politik in
den Dunstkreis strafbarer Handlungen. Es reicht aus, dass irgend ein Wirrkopf
oder Provokateur einige Scheiben einwirft, um politischen Gegnern der Regierung
das Maul zu stopfen. Mit derselben Begründung könnte man sämtliche
Kritiker der "Agenda 2010" dafür verantwortlich machen, wenn ein verzweifelter
Arbeitsloser oder Sozialhilfeempfänger Amok läuft. Oder man könnte
den Gegnern des Euro in Schweden vorwerfen, sie hätten "die Straße"
zum Mord an Anna Lindt "gepflastert", die als prominente Euro-Befürworterin
auf dem Höhepunkt der Referendumskampagne umgebracht wurde.
4. Diese Art der Argumentation
erinnert an die dunkelsten Abschnitte der deutschen Geschichte. Es gibt
hierzulande langjährige Erfahrungen mit Polizeistaaten, dem faschistischen
wie dem stalinistischen. Die Polizeiapparate derartiger Regime behaupten
stets, politische Kritik an der Regierung sei gleichbedeutend mit der Unterstützung
von Gewalt - und rechtfertigen damit die Unterdrückung ihrer politischen
Gegner. Das von der Verfassung geschützte Recht auf Meinungsfreiheit
schließt dagegen ausdrücklich das Recht ein, die Regierung zu
kritisieren, ohne deshalb der Förderung von Straftaten verdächtigt
zu werden.
5. Der Verfassungsschutz
rechtfertigt den gegen die WSWS erhobenen Vorwurf des "Linksextremismus"
mit einem Amalgam aus Halbwahrheiten und Unterstellungen. Einerseits behauptet
er, der auf der WSWS publizierte Text verdeutliche "den linksextremistischen
Hintergrund der Tat". Andererseits begründet er den angeblich linksextremistischen
Charakter des Texts damit, dass dieser am Tatort gefunden wurde. Ein offensichtlicher
Zirkelschluss.
Weil sich in dem Artikel
nichts findet, was auch nur entfernt als Befürwortung von Gewalt ausgelegt
werden könnte, unterschiebt ihm der Verfassungsschutz einfach selbsterfundene
Aussagen. Er schreibt, "in vielen linksextremistischen Veröffentlichungen"
werde "argumentiert, dass der Staat durch sein Handeln Rechtsextremisten
geradezu ermutige, gegen Ausländer und Flüchtlinge gewaltsam
aktiv zu werden. Der Staat zeige damit sein wahres - faschistisches - Gesicht.
Deshalb müssten Antifaschisten auch im Staat ihren Feind sehen."
Auch hier bedient sich
der Verfassungsschutz eines Zirkelschlusses. Er behauptet, der Artikel
der WSWS sei "linksextremistisch", und "beweist" dies, indem er Aussagen
fiktiver "linksextremistischer Veröffentlichungen" anführt, die
in dieser Form weder in dem vorgefundenen noch in einem anderen auf der
WSWS publizierten Artikel jemals gemacht wurden. Die Aussage, der Staat
"zeige sein wahres - faschistisches - Gesicht", die stark an die dumme
und banale Sprache der RAF erinnert, wird der WSWS schlicht unterstellt
und ist vom Verfassungsschutz frei erfunden.
6. Es ist bekannt und
in zahlreichen Fällen nachgewiesen, dass der Verfassungsschutz mit
Methoden der Infiltration und Provokation arbeitet. Er hat die rechtsextreme
Szene umfassend infiltriert und V-Leute des Verfassungsschutzes waren teilweise
selbst an Gewalttaten beteiligt.
Schon Ende der siebziger
Jahre sprengten Verfassungsschutzagenten ein Loch in die Mauer der Haftanstalt
von Celle, um einen gewaltsamen Befreiungsversuch eines angeblichen RAF-Häftlings
vorzutäuschen. Und erst in diesem Frühjahr ist das Verbotsverfahren
gegen die NPD gescheitert, weil jeder siebte Führungskader der Partei
auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes stand, so dass man bei vielen
Aktivitäten der NPD "von einer Veranstaltung des Staates" sprechen
musste, wie ein Verfassungsrichter anmerkte. In Brandenburg sind mehrere
Fälle bekannt, in denen der Verfassungsschutz gewalttätige Rechtsextreme
anheuerte. Auch die linksextreme Szene wird mit ähnlichen Mitteln
unterwandert, insbesondere in einem Bundesland, dessen Innenminister immer
wieder davor warnt, dass angesichts der rechten Gewalt die "Gefahr des
Linksextremismus" unterschätzt werde.
Angesichts dieser Situation
muss die Frage gestellt werden: Waren Agenten des Verfassungsschutzes am
Anschlag auf die Frankfurter Ausländerbehörde am 16. September
beteiligt? Weiß der Verfassungsschutz mehr, als er zugibt? Hatte
er bei der Hinterlegung des WSWS-Artikels selbst die Hände im Spiel?
Es gibt ein merkwürdiges
Missverhältnis zwischen den Vorwürfen gegen die WSWS und den
Ermittlungen über den Tathergang. Laut Aussage der zuständigen
Staatsanwaltschaft haben die Ermittlungen nach zwei Wochen noch kein Ergebnis
erbracht. Sie werden offenbar nur mit geringem Aufwand verfolgt. Der Verfassungsschutz
hat dagegen schon kurz nach der Tat einen Artikel veröffentlicht,
der nur wenige Zeilen über den Anschlag selbst enthält und zu
vier Fünfteln aus Angriffen gegen die WSWS besteht.
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